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unterschätzt, bedroht & erforscht – Seegras als Geheimwaffe gegen den Klimawandel

Seegras als Geheimwaffe gegen Klimawandel, Artensterben und Überfischung? Was alles in einer vielfach unbeachteten Pflanze steckt, erklärt uns Autor Philipp Schubert, Meeresbiologe am GEOMAR in Kiel und Mitgründer der Forschungstauchgruppe submaris.

Uli Kunz

TEXT: Philipp Schubert

Meine allererste Berührung mit Seegras liegt weit zurück: Als Sechsjährigen nahm mich mein Vater zu den ersten Tauchgängen in der Ostsee mit und zeigte mir dort, was sich alles im dunklen und mir damals etwas unheimlichen Seegras tummelte. Da schossen kleine Grundeln umher, suchten Asseln und Garnelen Schutz vor Seenadeln, und drohten große, gefährlich aussehende Strandkrabben, denen man mit dem Finger nicht zu nahe kommen wollte.

Erst Jahrzehnte später, mit Beginn meiner Doktorarbeit am Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung GEOMAR in Kiel, habe ich begonnen, mich auch für die Grundlage für all das bunte Treiben zu interessieren: das Seegras selbst. Inzwischen gibt es aktuelle Erkenntnisse über dieses lange Zeit auch von der Forschung etwas vernachlässigte Ökosystem.

Und diese zeigen inzwischen immer deutlicher: Seegras ist bedroht durch menschliche Aktivitäten. Aber: Seegras kann gleichzeitig gegen den Klimawandel und sogar gegen den Meeresspiegelanstieg helfen. Und: Wir können uns einen Verlust der verschiedenen Ökosystem-Dienstleistungen des Seegrases nicht leisten. Mal abgesehen davon, dass wir einen der schönsten und vielfältigsten Lebensräume unter Wasser verlieren würden!

Die Grasnadel (Syngnathus typhle) findet man von April bis November in den heimischen Seegraswiesen. Sie kann bis zu 35 Zentimeter lang werden und ist an ihrem Riesenmaul gut von den anderen Seenadeln zu unterscheiden.

Meeresbiologen wissen schon länger, dass Seegraswiesen etwas ganz Besonderes sind. Einzig in der breiten Öffentlichkeit war Seegras immer so etwas wie die schmuddelige Schwester der aufregenden und vor Farbe geradezu explodierenden Korallenriffe. Ja, sogar die Kelpwälder der kalten Meere haben lange Zeit mehr Aufmerksamkeit und somit auch Forschungsgelder erhalten als Seegraswiesen.

In den letzten Jahren hat sich das nun zumindest in der Wissenschaft geändert. Erkenntnisse über die fast unglaubliche CO2-Speicherfähigkeit von Seegras, die im Vergleich zu der von tropischen Regenwäldern etwa 35-mal höher ist, oder auch über seinen wichtigen Beitrag zum Küstenschutz haben dabei sicher geholfen.

Gut getarnt im Dickicht: Entdecken Sie den Seestichling (Spinachia spinachia)? Dann los ins Wasser! Sie sind bereit für das »Abenteuer Seegraswiese«.

Meeresbiologen sind überrascht

Auch unter Tauchern hat sich langsam herumgesprochen, dass Seegraswiesen auch bei uns immer einen Besuch wert sind. Allerdings muss selbst ich zugeben, dass die Wiesen meist etwas eintönig auf den dahineilenden Taucher wirken.

Man muss sich auf dieses besondere Habitat im wahrsten Sinne des Wortes einlassen: Wer sich die Zeit nimmt, sich hineinsinken lässt und in Ruhe auf Entdeckungstour geht, wird mit bunten Nacktschnecken, Myriaden von kleinen, auf den Blättern weidenden Gehäuseschnecken oder perfekt getarnten Seenadeln und Seestichlingen belohnt.

Putzkolonne: Eine winzige Grübchenschnecke (Lacuna vincta) weidet Mikroalgen von den Seegrasblättern. Dadurch wirkt sie gemeinsam mit anderen Schnecken und Klein­krebsen wie natürliches Antifouling und hält die Blätter sauber.

Trotzdem ist der große Nutzen von Seegras für uns Menschen bei der Normalbevölkerung nach wie vor weitgehend unbekannt.
Selbst Meeresbiologen werden immer noch überrascht vom Seegras. Forscher der Cornell Universität (USA) entdeckten 2017 eine bis dahin nicht bekannte Fähigkeit von Seegras.

Nach einigen Tauchgängen in indonesischen Korallenriffen befiel die Wissenschaftler heftiger Durchfall. Einige mussten sogar ins Krankenhaus. Als sie versuchten, durch die Analyse von Wasserproben den Grund dafür zu finden, fiel ihnen Erstaunliches auf: Wasserproben von Riffen in der Nähe von Seegraswiesen waren bis zu 50 Prozent weniger mit für den Menschen gefährlichen Bakterien belastet als Riffe ohne Seegraswiesen.

Sogar die Korallenriffe selbst profitierten davon, da auch die Korallen etwa 50 Prozent weniger Krankheiten aufwiesen, wenn Seegras in der Nähe wuchs. Wir haben in den letzten Jahren daraufhin auch hier bei uns an der Ostsee ähnliche Pilotstudien begonnen und konnten ebenfalls eine Reduktion der Bakterienlast um mehr als 40 Prozent in Seegraswiesen im Vergleich zu umliegenden Sandflächen feststellen.

Insbesondere die für manche Menschen gefährlichen und in den Sommermonaten auftretenden Vibrionen wurden deutlich reduziert.
Trotz dieser und vieler weiterer Erkenntnisse zu seinem Nutzen ist das Küsten-Ökosystem Seegraswiese in hohem Maße bedroht. Neuesten Schätzungen zufolge verlieren wir aktuell etwa sieben Prozent der weltweiten Seegrasfläche – pro Jahr!

Schuld ist wie so oft: der Mensch. Weltweit ist Seegras durch die zunehmende Bevölkerung an den Küsten gefährdet. Intensive Landwirtschaft mit zu hohem Düngemitteleinsatz verringert die Sichtweiten, was vor allem dem lichtabhängigen Seegras schadet.

Seltener Gast: Die Große Schlangennadel (Entelurus aequoreus) wird eher in Nordsee und Skagerrak gesichtet. Hier haben wir sie in der Kieler Förde entdeckt. Wie bei allen Seenadeln und den nah verwandten Seepferdchen werden auch bei den Schlangennadeln die Männchen schwanger. Einmalig im Tierreich! Die Große Schlangen­nadel kann bis zu 60 Zentimeter lang werden.

Der Ausbau von Aquakulturen, dazu zunehmender Bootstourismus mit seinen Ankerschäden, zum Beispiel im Mittelmeer, oder auch die globale Erwärmung setzen dem Seegras weiter zu.
Eine etwas weniger einfach zu verstehende Bedrohung resultiert aus der Überfischung: Fangen wir zu viele der großen Räuber weg (Beispiel: Dorsch), so vermehren sich die mittelgroßen, nicht befischten Räuber übermäßig (Beispiel: Grundeln, Stichlinge).

Diese fressen dann vermehrt die für das Seegras unverzichtbaren Weidegänger (Beispiel: Gehäuseschnecken, Kleinkrebse), wodurch das Seegras von Algen überwuchert wird, die zusätzlich noch von dem Überangebot an Nährstoffen im Wasser durch Dünger aus der Landwirtschaft profitieren. Ein Teufelskreis! Auch deshalb ist es wichtig, dass endlich die von Wissenschaftlern vorgeschlagenen Fangquoten eingehalten werden.

Seegras ist wichtig. Was können Sie tun, um es zu schützen?
Als normaler Verbraucher kann man immerhin schon mal darauf achten, dass man Fisch nur aus nachhaltig befischten Beständen konsumiert, hier helfen zur Orientierung unabhängige Siegel, wie z.B. das MSC-Siegel oder die Fischführer vom WWF oder Greenpeace.

Bedrohlich für unser heimisches Seegras sind vor allem die Einträge aus der Landwirtschaft. Diese müssen dringend reduziert werden, auch wenn die Bauern gerade das Gegenteil erreichen wollen. Als Verbraucher können wir mit unserem Kaufverhalten mitentscheiden.

Und als Taucher? Den Anker nicht in Seegras schmeißen – er hält dort eh nicht so gut! Und wie schon im Artikel erwähnt: Einfach mal im Seegras abtauchen, denn wir alle schützen nur, was wir kennen und lieben.

Es gibt auch ein engagiertes Projekt, an dem sich jeder mit einem Smartphone beteiligen kann: Seagrass-Spotter (https://seagrassspotter.org). Hier können Taucher, Schnorchler oder Strandspaziergänger gefundene Seegraswiesen eintragen. Einfach mal ausprobieren!

Seegras gesund – Meer gesund

Ironischerweise kann gesundes Seegras bei fast allen der genannten Probleme helfen. Seegraswiesen sind Heimat, Jagdrevier oder Kinderstube fast aller ökonomisch bedeutsamen Fischarten. Nicht nur bei uns, sondern weltweit: Mehr als 20 Prozent aller weltweit gefangenen Fische verbringt zumindest einen Teil ihres Lebens in Seegraswiesen, und Forscher haben schon mehr als 2000 Fischarten in Seegras identifiziert.

Ostsee geht auch bunt: Eine Gestreifte Hörnchen­schnecke (Polycera quadri­lineata) weidet Moostierchen von den Blättern. Auch diese Nacktschnecke hilft damit dem Seegras – und sieht sogar noch gut aus!

Seegraswiesen vermindern den CO2-Gehalt der Atmosphäre und könnten, wieder angepflanzt, dabei helfen, dem Klimawandel entgegen zu wirken. Aktuell läuft bei uns am GEOMAR in Kiel ein erster großflächiger Versuch in der Ostsee zur CO2-Speicherung von künstlich angepflanzten Seegraswiesen (Projekt: SeaStore), bei dem auch mit der Hilfe von Sporttauchern Seegras »aufgeforstet« wird.

Überhaupt muss man bei allen schlechten Nachrichten für das Seegras auf unserem Planeten auch eines erwähnen: Durch internationale Zusammenarbeit aller Anrainer und dadurch eingeleitete langfristige Schutzmaßnahmen für die Ost- und Nordsee können wir hierzulande von einer wahren Erfolgsgeschichte für den Meeresschutz sprechen!

Dem Ökosystem Meer geht es heute deutlich besser als in den 1970/80er Jahren, als wesentlich mehr Nährstoffe in unsere flachen und dadurch besonders gefährdeten Meere geleitet wurden.

Küstenschutz durch Wurzelwerk: Seegraswiesen besitzen ein dichtes Wurzelgeflecht (Rhizommatte), das es ihnen ermöglicht, sich auf dem Sand­boden zu verankern. Dadurch verfestigen sie den Meeresboden und verhindern so Sandverluste. Zusätzlich vermindern die Seegrasblätter die Wellenkraft um bis zu 40 Prozent.

Und so kann ich heute meinen Kindern beim Tauchen oder Schnorcheln anhand der Seegraswiesen und ihrer Bewohner die positive Entwicklung zeigen: Die fast schon legendär schlechten Sichtweiten in der Ostsee bessern sich jedes Jahr.

Wovon auch die maximalen Tiefen der Seegraswiesen künden, die als wichtiger Wasserqualitäts-Indikator jährlich untersucht werden. In den letzten 20 Jahren haben sich diese um nahezu zwei Meter tiefer verlagert. Ein deutliches Zeichen für eine Verbesserung der Wasserqualität. So kann es weitergehen!

Seegräser – Evolution der blühenden Landschaften im Meer

Seegräser kommen nahezu weltweit in den Küstenregionen vor. Es gibt etwa 60 Arten aus vier Familien, und sie bilden damit das am weitesten verbreitete Küsten-Ökosystem. Das Besondere an Seegräsern ist, dass sie als einzige Blütenpflanzen wieder ins salzige Meer zurückgewandert sind und dort erfolgreich die zuvor unbewachsenen weichen Sand- und Schlickböden besiedelt haben.

Ursprünglich waren alle Pflanzen im Meer beheimatet: Algen, die meist harten Untergrund zum Siedeln benötigen. Aus den Grünalgen entwickelten sich im Laufe der Evolution die ersten Landpflanzen und aus diesen die Blütenpflanzen. Deswegen sind die meisten Landpflanzen grün.

Dann in der Kreidezeit, vor etwa 70 bis 100 Millionen Jahren, als Dinosaurier die uneingeschränkten Herrscher über die Welt waren, wanderte eine Gruppe von Landpflanzen wieder zurück ins Meer und entwickelte sich dort zu den Seegräsern. Sie könnten also verwandtschaftlich nicht weiter von den Algen entfernt sein, mit denen sie umgangssprachlich oft verwechselt werden.

Beweisfoto: Seegras ist eine Blütenpflanze! Die Samen des Seegrases sind etwas, das im Meer einzigartig ist, denn Algen bilden keine Samen (oder Blütenstände) aus. Man kann die Blühsprosse von Mai bis Anfang September in den Wiesen leicht entdecken: Sie sind im Gegensatz zu den »normalen« Pflanzen etwas länger und verzweigt.