Reportage

Mülltaucher im Einsatz gegen den Kollaps des Victoriasees

Seinen Arbeitsplatz bezeichnet Agrey Dravule selbst als größte Müllhalde Afrikas – auf Tauchstation im Victoriasee.

Yannick Tylle

TEXT: Simone Schlindwein

Agrey Dravule taucht seinen Zeh ins Wasser, bevor er in seine Flossen steigt. Dann stülpt er die Tauchmaske über und steckt sich das Mundstück des Atemreglers zwischen die Zähne. Mit großen Schritten watet der 25-jährige drahtige Ugander im Neoprenanzug in das grün schimmernde Wasser. Seine Mission: den Victoriasee zu retten. Das kleine ugandische Fischerdorf Guda, wo Dravule tauchen geht, liegt etwa 30 Kilometer von Ugandas Hauptstadt Kampala entfernt. Die rund 500 Einwohner leben in selbstgebauten Hütten mit Wellblechdächern. Die meisten sind Fischer und ernähren sich vom See.

Eingeschlepptes Problem

Der Victoriasee im Herzen Afrikas, an dessen Ufer Kampala liegt, ist der drittgrößte See der Erde, etwa so groß wie Bayern. Er spendet den rund 30 Millionen Menschen entlang seiner Ufer Wasser, er liefert Fisch und dient als Transportweg. Doch allmählich wandelt sich der See zum Fluch. Bereits 2005 wurde das Gewässer von der Umweltschutzorganisation Global Nature Fund zum meistgefährdeten See der Welt erklärt. Die Ursachen dafür sind vielfältig: Ursprünglich von belgischen Kolonialherren nach Burundi eingeschleppt, verbreitete sich eine Wasserlilien-Art aus Südamerika über zahlreiche Zuläufe in den 1980er Jahren bis in den Victoriasee hinein.

Wasserlilien, auch Seerosen genannt, sorgen als invasive Art im Victoriasee für große Probleme.

Die Hyazinthen kennt man in Europa als Gartenteichblumen. Sie schwimmen auf der Wasseroberfläche und vermehren sich rasant. Inzwischen sind 90 Prozent der Ufer davon bedeckt. An einigen Abschnitten schwimmen ganze Teppiche davon. Die Hyazinthen sind der Grund, dass das Wasser einer giftgrünen schleimigen Suppe gleicht. Auch Taucher Dravule rümpft die Nase, weil es faulig riecht. Die Wasserlilien rauben den im See lebenden Tieren den Sauerstoff. Zudem führt die steigende Wassertemperatur infolge des Klimawandels zu einer hohen Konzentration an Cyanobakterien, auch Blaualgen genannt, die das Wasser zusätzlich grün färben. Diese Bakterien verursachen Hautausschlag sowie Magen- und Darminfektionen.

Die Algenblüte und das grüne Wasser zeugen von einer sehr schlechten Wasserqualität.

Arbeitsplatz und Mission

Dravule kennt den Juckreiz nur zu gut. Er ist engagiertes Mitglied in Ugandas einzigem Tauchverein: »Der See ist meist so trübe und grün, dass ich unter Wasser nicht einmal einen Meter weit sehen kann«, seufzt er. »Das macht meine Mission besonders schwierig.« Dravule will mit seiner Arbeit dazu beitragen, dass der See nicht endgültig kippt. Als einer von nur wenigen ausgebildeten Tauchern im Land kümmert er sich beruflich im Auftrag von Firmen um deren Fischzuchtanlagen unter Wasser. Manchmal beauftragt ihn auch die Marine, gesunkene Boote und sogar Leichen zu bergen. In seiner Freizeit jedoch schnappt er sich seine Ausrüstung, um nach Unrat zu tauchen. Meist ist er allein unterwegs, manchmal begleiten ihn Freunde aus dem Tauchverein.

Säckeweise Plastikflaschen, kaputte Fischernetze, Autoreifen, Plastiktüten – Dravule kann gar nicht alles aufzählen, was er schon aus dem See gefischt hat. Wenn die Sicht unter Wasser klar ist, dann stellt er bei seinen Tauchgängen immer wieder fest: »Der See ist die größte Müllkippe Afrikas.« Die Folgen sind verheerend. Nicht nur, dass sich in den Mägen der Fische zunehmend Plastik sammelt. Ein Großteil der Fische ist zudem hochgradig vergiftet. Im Jahr 2018 entnahmen Forscher Proben aus dem Wasser, vom Ufersand und vom Fischfleisch. Die Ergebnisse waren erschreckend: Neben der hohen Konzentration von Fäkalien sowie Phosphaten, die von Düngemitteln aus der Landwirtschaft stammen, sei das Wasser mit Arsen, Blei- und Aluminium-Rückständen aus Autobatterien vergiftet. Besonders alarmierende Werte wurden am Ufer von Kampala registriert. Der Grund: Von der Innenstadt verläuft ein offener Abwasserkanal. Er zieht sich von der riesigen Müllhalde bis zum See hinunter. Unterwegs sammeln sich tonnenweise Abfälle an, die beim nächsten Regen in den See gespült werden – wo Dravule sie dann im besten Fall wieder zutage fördert.

Die nahe Hauptstadt Ugandas, Kampala, sorgt dafür, dass der Müllstrom nicht abreißt.

Auf verlorenem Posten?

Als Dravule wieder auftaucht, guckt er enttäuscht unter seiner Tauchmaske hervor. Gerade einmal eine Handvoll Plastikflaschen hat er gesammelt. »Die Sichtweite heute ist einfach null«, klagt er und sammelt am Strand noch ein kaputtes Fischernetz ein. Während Dravule sich aus seinem Neoprenanzug schält, schaut er sich um. Frauen waschen im See ihre schmutzige Wäsche. Daneben reparieren Fischer einen Bootsmotor, füllen Hydraulikflüssigkeit nach und werfen die leeren Behälter ins Wasser. »Diese Leute wissen nicht, was sie dem See und sich selbst damit langfristig antun«, sagt Dravule. Dann schleppt er seine Pressluftflaschen zu einer Holzhütte, in der der Dorfvorsteher sein Büro hat. Er klopft und fragt Dorfvorsteher Henry Kyemba, wo die Einwohner von Guda denn ihren Müll abladen. Mit einer Handbewegung fordert der alte Mann ihn auf, mitzukommen. Hinter ein paar alten Fischerbooten türmt sich ein Berg voller Unrat: Plastik- und Bierflaschen, Essensabfälle – alles liegt kunterbunt auf einem Haufen, nur wenige Meter vom Ufer entfernt. Drei Ziegen laben sich an Bananenschalen. »Dieser ganze Müll kann in den See hineingespült werden, wenn die Wellen kommen«, erklärt Dravule dem Dorfvorsteher. Dieser nickt zustimmend. »Als Fischer verdienen die Leute hier doch ihren Lebensunterhalt mit dem See, nicht wahr?«, fragt Dravule. Kyamba nickt erneut. »All dieser Müll hier führt langfristig dazu, dass die Menschen kein Einkommen mehr haben«, mahnt der Taucher. Dann drückt er dem älteren Mann die Telefonnummer von der örtlichen Müllbeseitigungsfirma in die Hand.