Viele Tiere stellen Gifte her, um sich gegen Feinde zu verteidigen oder um Beute zu erlegen. Dafür bilden sie ein Gift in einer Giftdrüse und injizieren es gezielt in die Beutetiere. Diese Toxine können je nach Zusammensetzung auf die Muskeln, Nerven oder auch das Blut der Beute wirken und es dadurch lähmen oder töten. Ihre Wirkungsweise macht solche tierischen Toxine auch für Forscher interessant, die nach Wirkstoffen für neue Medikamente suchen.
Die Gifte einiger Tiere sind in dieser Hinsicht bereits recht gut untersucht, darunter die Toxine der Schlangen, Spinnen, Skorpione und Insekten. Von Meeresbewohnern existieren hingegen bisher nur Daten für die Gifte einzelner Tierarten. Dass es auch unter den Krebstieren giftige Arten gibt, war lange unbekannt. Vor zehn Jahren wurde allerdings entdeckt, dass sogenannte Remipeden ebenfalls Toxine produzieren. Diese Krebse erinnern optisch eher an Hundertfüßer, sind entfernt mit Insekten verwandt und leben in marinen Unterwasserhöhlen.
Ein Forschungsteam um Ernesto Lopes Pinheiro‑Junior von der Universität Leuven hat nun erstmals die Giftstoffe eines solchen Remipeden detailliert untersucht: von Xibalbanus tulumensis. Diese Krebsart kommt nur in Cenoten vor – dem Unterwasser-Höhlensystem auf der mexikanischen Halbinsel Yucatàn. Im Körper dieses seltenen Unterwasserkrebses Xibalbanus tulumensis haben Forschende eine neuartige Klasse an Giftstoffen gefunden: Die Toxine hemmen verschiedene Ionenkanäle in Nervenzellen und könnten daher genutzt werden, um Medikamente für neurologische Erkrankungen wie Epilepsie oder auch Schmerzmittel zu entwickeln.
Die neu entdeckten Xibalbine und ihre Eigenschaften verdeutlichen, dass marine Lebewesen über Substanzen verfügen, deren medizinisches Potenzial bislang nicht ausgeschöpft wurde. Die Herstellung von Arzneimitteln aus Tiergiften ist jedoch ein komplexer, zeitaufwändiger Prozess. »Geeignete Kandidaten zu finden und ihre Wirkung umfassend zu charakterisieren, sodass damit die Basis für sichere und wirksame Arzneimittel gelegt wird, ist heute nur noch in einem großen interdisziplinären Team wie in unserer Studie möglich«, sagt Wissenschaftler von Reumont.
Bis aus dem Krebsgift Medikamente werden, kann es daher noch dauern. Im Fall der Remipeden-Forschung drängt allerdings die Zeit. Denn quer durch die Halbinsel Yucatàn soll das Intercity-Eisenbahnnetz Tren Maya gebaut werden. Dadurch wird der Lebensraum der Giftkrebse massiv bedroht. »Die Cenoten sind ein hochsensibles Ökosystem«, erklärt von Reumont. »Unsere Studie verdeutlicht, wie wichtig der Schutz der biologischen Vielfalt ist. Nicht nur wegen ihrer ökologischen Bedeutung, sondern auch wegen potenzieller Inhaltsstoffe, die für uns Menschen von entscheidender Bedeutung sein können.«