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Neue Gäste beim Festmahl – Waltreffen vor Norwegen

Im Norden Norwegens versammeln sich alljährlich zahllose Orcas und Buckelwale, um sich mit Heringen den Bauch vollzuschlagen. Jetzt wurden auch Finnwale als »Trittbrettfahrer« gesichtet.

Simon Lorenz
Bianca Klement
Alex Pham

TEXT: Simon Lorenz

Die nördlichen Fjorde Norwegens sind die vielversprechendste Region der Welt, zumindest wenn es um das Schwimmen mit Orcas geht, den Spitzenräubern der Meere. Diese intelligenten Wale sind zwar in allen Ozeanen anzutreffen. Aber nirgendwo sonst gibt es einen so zuverlässig vorhersehbaren gedeckten Tisch für Orcas, der sie mit vergleichbarer Sicherheit anzieht.

Dieses Naturereignis ist jetzt noch größer geworden.
Milliarden von Heringen überwintern im relativen Schutz der Fjorde am oberen Ende Norwegens. Eine Tatsache, die sich Heringsfresser wie die Schwertwale zunutze gemacht haben. Doch sie sind nicht die einzigen: In den letzten Jahren haben immer mehr Buckelwale gelernt, an diesem Festmahl teilzuhaben, indem sie mittels opportunistischer Trittbrettfahrer-Methode die Baitball-Technik der Orcas nachahmen. Und nun hat sich auch das zweitgrößte Tier der Welt, der Finnwal, der Party angeschlossen. Allerdings crasht er die Party.

© Simon Lorenz

Norwegens Arktis

Die Reise beginnt in der nördlichsten Stadt der Welt: in Tromsø. Gut 350 Kilometer nördlich des Polarkreises gelegen, ist diese Stadt ein Highlight für sich. Sie liegt auf einer Insel mitten in einem Fjord und bietet mit ihren historischen, farbenfrohen, hölzernen Kaufmanns- und Hafenhäusern eine malerische Kulisse.

Das jährliche Heringsfressen hat sich immer rund um Tromsø abgespielt, obwohl es sich in den letzten zehn Jahren mehrmals verlagert hat. Der Standort für die Heringsansammlungen scheint sich nach Norden zu bewegen. Eine Folge der globalen Erwärmung, wie einige Leute vermuten.

© Bianca Klement

Die Herings-Saison beginnt Ende Oktober, und die Schwärme bleiben bis Februar. Oft erreicht das Festmahl für die Wale gleich zu Beginn seinen Höhepunkt, wenn hungrige Orcas und Buckelwale von ihren Wanderungen auf hoher See zurückkehren. Die Orcas, die man hier antreffen kann, sind Durchreisende. Sie sind weder hier ansässig noch leben sie dauerhaft fernab der Küsten. Ihre riesigen Reviere folgen den Bewegungen der Fische, die sie erbeuten.

Im Gegensatz zu anderen Unterpopulationen der Orcas ernähren sie sich nicht von Walen, Seelöwen und Haien, sondern hauptsächlich von Fischen. Diese Ernährungsweise führt dazu, dass diese Schwertwale die besten und intaktesten Zähne aller Orcas haben, da sie sich nicht durch Häute und Gräten kauen müssen und nur schmackhafte Fischfilets fressen.

In der Dunkelheit der Nacht verlassen die Orca-Suchschiffe den Schutz des Ankerplatzes. Die Tage sind kurz und kalt, so dass die Suche bei Einbruch der Dunkelheit in vollem Gange sein muss. Die Saison dauert zwar von Ende Oktober bis Februar. Aber im Dezember und Januar gibt es nur sehr wenig bis gar kein Tageslicht. Die beste Zeit, um nach Fischen Ausschau zu halten, ist im Oktober und November, wenn die Raubfische hungrig, und die Tage noch länger und etwas wärmer sind.

© Simon Lorenz

Heringe halten sich gern in den Tiefen der Fjorde auf, etwa 100 Meter oder noch tiefer. Die schnell schwimmenden Orcas können ihren Atem nicht besonders gut anhalten – mit 15 bis 20 Minuten Atemstillstand ist es nicht möglich, in der Tiefe zu jagen. Die Betreiber der Suchschiffe gehen die Sache unterschiedlich an. Expeditionsschiffe bieten eine schwimmende Basis, die sich mit dem Geschehen bewegt, um früh am Morgen am richtigen Ort zu sein.

Dabei können die schwimmenden Gäste zum Aufwärmen auf das Mutterschiff zurückkehren. Die zweite Möglichkeit sind Orca-Camps: landgestützte Operationen mit meist leistungsfähigeren Schnellbooten, die jeden Tag zum Ort des Geschehens fahren. Vorteile hier sind die Ortskenntnis und die schnelleren Motoren, doch die Gäste müssen sich darauf gefasst machen, den ganzen Tag zu frieren.

Eine Orca-Begegnung verändert das Leben

Während des großen Fressens wimmelt es stellenweise nur so von Orcas. Vor allem in der Nähe großer Fischerboote sind sie zu Hunderten anzutreffen. Ihre glatten, schwarzen Rückenflossen schneiden durch die Wellen, ihre Atemzüge sind mit tiefen Seufzern und Dampfstößen gut hörbar. Das heißt aber nicht, dass das Interagieren mit ihnen einfach ist.

Die beste Möglichkeit, mit Orcas zu schwimmen, ist, wenn sie entweder in einer geraden Linie unterwegs sind oder wenn sie es geschafft haben, einen Baitball zu bilden. Die Boote versuchen, Orca-Gruppen aufzuspüren, die in Bewegung sind, um die bestmögliche Chance auf Erfolg zu haben.

© Simon Lorenz

Wenn der Kapitän des Schnellboots das Kommando »Los, los, los!« gibt, rollen die Menschen in Trockenanzügen in die schwarzen Fluten und erleben eine eisige »Erfrischung«. Während die Körper gut vor der Kälte geschützt sind, spüren die Gesichter die vier bis fünf Grad Wassertemperatur wie Nadelstiche auf der Haut. Der Blick in das dunkle, schwarze Wasser ist verwirrend und unbehaglich. Bis die schwarz-weißen Formen des tonnenschweren Superdelfins auftauchen! Einen Orca zu sehen, verändert das Leben. Die Kälte ist schnell vergessen. Mit Freitauchanzügen können Schwimmer sogar untertauchen und alles aus nächster Nähe erleben.

© Bianca Klement

Der Baitball

Der Hauptgewinn ist jedoch das Auffinden eines Baitballs. Dafür braucht es detaillierte Kenntnisse des Meeres und der Tiere, scharfe Beobachtung und eine gehörige Portion Glück. Ähnlich wie beim weltberühmten Sardine Run in Südafrika verlassen viele zuvor hoffnungsfrohe Taucher das Gebiet im hohen Norden voller Enttäuschung, ohne einen einzigen Baitball zu Gesicht bekommen zu haben.

© Simon Lorenz

Oft werden diese Beutefisch-Ballungen von zwei oder drei Orca-Gruppen geschaffen, die sich zum Jagen zusammengefunden haben. Angeführt von den führenden Tieren tauchen die Schulen gemeinsam ab und treiben die Heringe an die Wasseroberfläche, wo sie zu Baitballs geformt werden – annähernd kreisförmigen, dichten Schwärmen. In ihrer Panik schwimmen die Fische immer näher aneinander heran und versuchen, die Angriffe durch koordinierte Abgaben von Blasen aus ihren Schwimmblasen abzuwehren.

Jetzt zeigt sich die ganze Eleganz der Orca-Jagd. Die Raubtiere gleiten durch den Schwarm und schlagen mit der Schwanzflosse auf die Fische ein. Sofort drehen sie sich mit einem Rückwärtssalto um die eigene Achse und filetieren den betäubten Hering in ihrem Maul. Das Wasser ist schließlich voller Blasen, Schuppen und Heringskadaver.

© Alex Pham

Nutznießer

Die ganze Action bleibt auch den Buckelwalen nicht verborgen, die immer in der Ferne zu lauern scheinen. Ähnlich wie die Haie in Südafrika, die auf die Delfine warten, scheinen die Buckelwale eine Trittbrettfahrer-Methode entwickelt zu haben. Ausgehungert von ihrer 3000 Kilometer langen Reise von den Azoren und der Karibik und oft in Begleitung ihrer riesigen Babys benötigen sie dringend Proteine – schließlich kann ein Buckelwalbaby täglich 500 Liter Muttermilch zu sich nehmen.

Wenn sich die Buckelwale aus der Tiefe auf den Baitball stürzen, explodiert er in alle Richtungen. Manchmal sind die Wale in Teams unterwegs. Doch meist schaffen sie es allein, riesige Heringsmengen zu verschlingen und die harte Arbeit der Orcas zunichte zu machen.

Die Orcas tun ihr Bestes, um die Riesendiebe zu vertreiben. Bei jeder Gelegenheit jagen sie die Buckelwale und traktieren sie mit Kopfstößen. Sogar Bisse in die Schwanzflosse kommen vor, wenn wagemutige Orcas die drei Mal so großen Buckelwale angreifen. Das veranlasst die Buckelwale wiederum, die Baitballs so schnell wie möglich ins Visier zu nehmen und das Gebiet dann sofort wieder zu verlassen.

New Kids on the Block

An einem Tag im November 2022 befanden wir uns in einer Bucht, umgeben von Fischereischiffen. In großen Netzen wurde dort Hering gefangen. Die Orcas halten sich gern in der Nähe dieser Schiffe auf und suchen nach einer Gelegenheit zum Naschen. Schwarze Flossen tauchten an jenem Tag überall auf. Zirka 200 Orcas waren es damals in der weiteren Umgebung.

© Simon Lorenz

Unser erfahrener Guide bemerkte eine Gruppe der Tiere, die sich vom Ort des Geschehens absetzte. Ein paar Stunden lang spähte er an Bord unermüdlich in die Finsternis und verfolgte die Orcas in einiger Entfernung. Uns allen wurde immer kälter, trotz intensiver Aerobic in unseren Anzügen. Aber die Ausdauer sollte sich lohnen. Schließlich begann das Wasser zu kochen, und die Orcas jagten riesige Baitballs. Wir rollten von Bord – zwischen mehreren Baitballs und 50 oder noch mehr Orcas.

Doch dann geschah etwas ebenso Einzigartiges wie Beunruhigendes. Wie aus dem Nichts schossen plötzlich Finnwale durch die Baitballs! Scheinbar direkt neben den Schwimmern. Wie riesige Geschosse schlugen sie auf die Heringe ein. Der zweitgrößte aller Wale, der bis zu 27 Meter lang und 80 Tonnen schwer werden kann, ist auch der schnellste aller Bartenwale. Finnwale erreichen Geschwindigkeiten von bis zu 50 Kilometern pro Stunde. Wie ihre Cousins, die Blauwale, ernähren sie sich eher von Krill und sind nicht dafür bekannt, Heringe zu fangen.

Die Orcas machten keinen Unterschied bei der Behandlung dieser weiteren Trittbrettfahrer. Sie gingen aggressiv vor und verfolgten die Finnwale erbittert. Trotzdem schossen die Giganten immer wieder aus der Tiefe hervor, bis der Baitball wieder verstreut war.

Was war hier passiert?

Nie zuvor wurde beobachtet, dass Finnwale sich von Heringen ernähren. Es könnte sich also um eine zufällige Begegnung gehandelt haben. Denn Finnwale sind dafür bekannt, durch die Fjorde zu ziehen. Im Gegensatz zu den Orcas können sie bis zu 200 Meter tief tauchen und länger die Luft anhalten, sodass sie möglicherweise in der Tiefe auf Heringsjagd gehen. Eine andere Erklärung könnte sein, dass die Finnwale das opportunistische Verhalten der Buckelwale beobachtet und daraus gelernt haben. Für alle Orca-Watcher im arktischen Norden besteht jedenfalls Hoffnung, dass sie auch diese gigantische Walart zu Gesicht bekommen. Als wäre das Abenteuer nicht so schon groß genug gewesen.

Reiseinfo: Norwegen Tauchsafari

Anreise: mit dem Flugzeug nach Tromsø/Norwegen (Direktflug mit Lufthansa von Frankfurt).
Unterkunft: Expeditionsschiff M/S Strønstad oder »Orca Camps«. Die Reise auf dem Schiff ist flexibler, wenn die Heringsschwärme in andere Fjorde migrieren.
Saison: Die Heringsschwärme halten sich von Oktober bis Februar in den Fjorden auf. November ist der beste Monat. Dezember und Januar haben nur wenig Tageslicht, und die Wasser- und Lufttemperaturen sind dann am niedrigsten (im November beträgt die Lufttemperatur -2 bis 5 Grad Celsius und die Wassertemperatur 4 Grad Celsius).
Ausrüstungsempfehlung: Trockentauchanzug mit Neopren Handschuhen oder 7-9 Millimeter offenporiger Freitauch-Neopren.
Das Schiff: Die M/S Strønstad wurde 1955 als lokales Fähr- und Passagierschiff gebaut. Heute dient sie als komfortables und funktionelles Expeditionsschiff. Alle Gästekabinen befinden sich auf dem Unterdeck im vorderen Teil des Schiffes, außerdem gibt es zwei Salons für Freizeitaktivitäten. Im hellen Essbereich mit Blick aufs Meer
werden traditionelle norwegische Gerichte serviert. Der beheizte Trockenraum an Bord des Schiffes ist ein perfekter Ort, um Ausrüstung aufzubewahren und sich umzuziehen, bevor mit zwei Schlauchbooten und einheimischen Skippern in die Nähe der Wale gefahren und mit Orcas und Buckelwalen geschwommen wird. Für das
Aufwärmen dazwischen und danach gibt es den dampfenden Whirlpool auf dem Außendeck, Nordlichter inklusive. Das Schiff hat vier Doppelkabinen und zwei Viererkabinen. Die Kabinen sind einfach eingerichtet und verfügen über obere und untere Kojen, ein kleines Waschbecken, einen Kleiderständer und einen Heizkörper. Allerdings ist der Platz vor allem in den Viererkabinen begrenzt. An Bord des Schiffes gibt es drei Toiletten und zwei Duschräume mit Kleiderhaken. Ab Sommer/Herbst 2023 wird ein weiteres
Schiff diese Tour anbieten. Größer und neuer.
Anbieter: Diese »Tauchsafari« der besonderen Art findet man ab sofort unter anderem im Programm des Tauchreiseveranstalters Beluga Reisen.

© Simon Lorenz – Auf dem Schiff kann man sich während der Pausen im Whirlpool aufwärmen.

Mehr Infos:
www.belugareisen.de

Der Autor

Unterwasser-Fotograf Simon Lorenz ist der Gründer von Insider Divers. Er ist regelmäßiger Autor für Tauchmagazine und Redner bei Veranstaltungen. Simon spricht sechs Sprachen und ist auf allen Kontinenten getaucht. Als PADI-Ausbilder und Foto-Coach ist es sein Ziel, die Tauch-, Meeres- und Fotografiekenntnisse seiner Gäste zu verbessern. Simon hat mit CNN, BBC und NatGeo zusammengearbeitet und unterstützt verschiedene Meeresschutz-Organisationen wie den WWF und The Nature Conservancy. Zudem kämpft er in seiner Rolle als Beirat der Hongkong Shark Foundation für den Schutz der Haie.
www.simonlorenz.de
Instagram: www.instagram.com/simonlorenz_insiderdivers

© Bianca Klement – Simon Lorenz sieht sich als Botschafter der Meere und ihrer Lebenwesen.