TEXT | Mark B. Hatter
Unser Cruise Dirctor Pep war besorgt. Die Abfahrt von der Lembeh Strait zum Derawan-Archipel vor der Ostküste Borneos in der Sulawesisee war so geplant, dass wir zwei Tage vor Vollmond ankommen würden. Das starke Mondlicht würde wahrscheinlich bedeuten, dass die von den örtlichen Fischern betriebenen »Bagans« nicht besetzt wären. Bagans sind HochseePlattformen mit Netzen, die auf beiden Seiten seitlich ins Wasser ragen und mit hellen Lichtern ausgestattet sind, um kleine Fische und Garnelen anzulocken. Die Netze werden hochgezogen, wenn sie voll sind. Der nächtliche Fang wird sortiert und am nächsten Tag an Land gebracht, wo er auf den örtlichen Märkten verkauft wird. Innerhalb von ein oder zwei Tagen nach Vollmond verlassen die Fischer die küstennahen Fischerei-Plattformen wieder, da das helle Mondlicht die Lichter auf den Bagans überstrahlt. Peps Sorge war berechtigt. Denn Bagans sind in diesem Teil der Welt ein Synonym für Walhaie. Doch wo keine Fischer, da kein Fang. Und wo kein Fang, da keine Walhaie! Und obwohl das nicht garantiert ist, ist ein Walhai-Tauchgang an Borneos Bagans ein typischer Tauchgang auf dem Programm des Safarischiffs »Raja Ampat Aggressor« auf seiner saisonalen Route, die durch Borneos Derawan-Archipel führt.
Wir befanden uns an Bord der »Raja Ampat Aggressor« auf ihrer Überführungsfahrt von der Lembeh Strait nach Borneo, wo sie die nächsten sechs Wochen zwischen den Derawan-Inseln kreuzen sollte. Tags zuvor hatten wir die nordwestliche Ecke Sulawesis erreicht und betaucht. Jetzt, sechs Tage nach Erkundung der Lembeh Strait, trennten uns nur noch 16 Stunden – je nach Wetterlage – von der Ostküste Borneos und jenem einzigen Tauchgang an einem Bagan, der über Borneos flachem Ost-Kalimantan-Schelf schwebte.
Oder alternativ den Derawan-Inseln, gut vier Stunden nördlich der Bagans, womit wir auf eine Walhai-Begegnung verzichten müssten, um drei geplante Tauchgänge zu absolvieren. Eine Verschiebung des Besuchs der Bagans über den folgenden Tag hinaus kam für Pep nicht in Frage. Er war sich sicher, dass der morgige Tag unsere letzte und einzige Chance war, auf dieser Tour mit Walhaien zu tauchen. Wir mussten also eine Entscheidung treffen.
Hopp oder top
Nach der Hälfte einer ohnehin schon beeindruckenden zwölftägigen Reise hatten wir eine Reihe von Tauchzielen abgehakt, die auf unserer Bucketlist standen. Von Blauring- und Kokosnuss-Kraken bis hin zu zahlreichen Nacktschnecken, den endemischen Banggia-Kardinalfischen und Anglerfischen war in der Lembeh Strait alles dabei. In der nordöstlichen Ecke von Sulawesi tauchten wir am Sangka Beach an einem Riff, das mit imposanten orangefarbenen Weichkorallen bedeckt war. Weiter westlich, auf halbem Weg nach Borneo, schwammen wir mit Dutzenden Grüner Meeresschildkröten vor Bunaken Island. Bei so vielen großartigen, bereits absolvierten Tauchgängen war Peps Vorschlag, drei Tauchgänge zu riskieren, in der Hoffnung, einen Walhai zu finden, eine leichte Entscheidung: Einstimmig entschieden wir uns an Bord für die Bagans. Und Peps Intuition war richtig. Es war eine Entscheidung, die wir nicht bereuen sollten. Am folgenden Morgen gegen 10 Uhr erreichten wir den flachen Schelf vor der Küste Borneos und begannen, die weit verstreuten Bagans nach Fischern und Walhaien abzusuchen. Um 11 Uhr ertönte die Taucherglocke: Einer von zwei Tauchern, die der Raja Ampat Aggressor im Beiboot vorausgefahren waren, hatte einen bemannten Bagan mit zwei Walhaien gefunden, die gerade ihren Fang im Wasser fraßen. Zeit, einen Gang höher zu schalten!
Voll im Walhaifieber
Um 11:45 Uhr verließen wir das Beiboot bei wolkenlosem Himmel und hervorragender Sicht. Und wurden belohnt mit einer der besten Walhai-Begegnungen, die ich je erlebt habe. Wie in Aussicht gestellt, schwammen zwei über acht Meter lange Tiere immer wieder träge um unsere kleine Tauchergruppe, die sich unter dem Bagan versammelt hatte. Die Tiere ließen sich die Sardinen schmecken, die die Fischer ins Wasser warfen. Mit ihren riesigen Fluken, die sie senkrecht in der Wassersäule hielten, saugten die Walhaie die Sardinen fast 75 Minuten lang in großen Schlucken von der Wasseroberfläche auf. Drei Rifftauchgänge für eine solche magische Walhai-Begegnung zu opfern war absolut die richtige Entscheidung!
Besuch im Kindergarten
Nachdem die Walhai-Begegnung in den Logbüchern vermerkt war, fuhren wir vier Stunden gen Norden zur Insel Sangalaki. Dort wartete ein weiteres besonderes Ereignis: die Freilassung frisch geschlüpfter Grüner Meeresschildkröten aus dem Schutzgebiet der Ranger-Station auf der Insel. Um eine möglichst hohe Überlebensrate zu erreichen, werden die Schildkröteneier unmittelbar nach Entdeckung eines neuen Nests auf der Insel »geerntet«. Dann werden sie bis zum Schlüpfen der Tiere in ein geschütztes Gehege verlagert. Die geschlüpften Jungtiere werden dann einen Tag lang in einem kleinen Pool gehalten und in der Abenddämmerung freigelassen, um sie vor Raubtieren, insbesondere Seevögeln, zu schützen. Noch voll begeistert von unserer magischen Walhai-Begegnung hatten wir nun die zauberhafte Gelegenheit, den Parkrangern beim Einsammeln der Schildkrötenbrut zu helfen, die gerade aus ihrem Nest im Schutzgehege ausschwärmte. In einem improvisierten Schildkröten-Wettrennen wurden die zappelnden Jungtiere in behelfsmäßige Bahnen gesetzt, wo sie sofort ins Meer stürmten.
Raja Ampat in Miniatur
Von den insgesamt 31 Inseln des Derawan-Archipels, der zwei Grad nördlich des Äquators in der Sulawesisee liegt, besucht die Raja Ampat Aggressor im Laufe ihrer siebentägigen Safari spektakuläre Tauchplätze an vier der Eilande. Der Derawan-Archipel liegt in der Nähe des linken Schenkels des Korallendreiecks und weist eine außergewöhnliche Artenvielfalt auf: 872 Rifffisch-Arten, 507 Korallen-Arten und wirbellose Tiere, darunter fünf Arten von Riesenmuscheln, zwei Arten von Meeresschildkröten und die an Land lebende Kokosnusskrabbe. Es wird schnell deutlich, dass das Tauchen vor den Derawan-Inseln den Tauchgängen um Waigeo und Gam im Norden von Raja Ampat ähnelt. Die Steinkorallenriffe sind genauso gesund und atemberaubend wie die vor Raja Ampat, nur in kleinerem Maßstab.
In der gegenwärtigen Reihenfolge der Krankheiten unseres Planeten scheinen die Derawan-Inseln den zerstörerischen Kräften des Klimawandels entgangen zu sein. Zumindest momentan. Hier gibt es alte, großgewachsene Korallen und Dickichte von Hirschhornkorallen. Und gesunde Korallen bedeuten gesunde Fischpopulationen – genau wie in Raja Ampat. Da es sich bei den Derawan-Inseln um Atolle handelt, bieten sie Tauchplätze mit Steilwänden, Riffpassagen zu Lagunen sowie Strömungstauchgänge an exponierten Lagen. Bei einem Abstieg an einer Steilwand am Barracuda Point vor der Insel Kakaban mussten wir aufgrund der reißenden Strömung Riffhaken verwenden, um unsere Position zu halten. Pep hatte uns vor dem Tauchgang entsprechend gebrieft. Ich ließ meine Kamera an Bord zurück, was ich aber gern tat, da die Strömung so stark war, dass ich keine Fotos hätte machen können. Es gelang mir jedoch, mich bis auf wenige Meter an einen riesigen Barrakuda-Schwarm heranzuarbeiten und einige Minuten mit den Namensgebern dieses Tauchplatzes zu verbringen.
Überraschenderweise änderte sich das Riff extrem, als wir über den Unterwassersporn von Barracuda Point auf die Leeseite der Strömung wechselten: von einer relativ kahlen Wand, die von der stets vorhandenen Strömung aufgespült wurde, zu einem weiten Blick auf steiniges Korallendickicht, in dem es vor Leben nur so wimmelte. Zum Glück kehrten wir später nochmal zum Tauchen zum Barracuda Point zurück. Diesmal segelte ich ohne den Riffhaken in der Strömung zum Ausläufer, bog um die Ecke in ruhiges Wasser und verbrachte 70 fatastische Minuten damit, Weitwinkelbilder von den Korallenwäldern und ihren Bewohnern im hellen Sonnenlicht des späten Nachmittags zu schießen. Eine weitere Überraschung war für uns das Bad im größten Quallensee der Welt auf Kakaban Island. Der von Mangroven umgebene See ist eine geschlossene Salzwasserlagune, in der drei Arten von landgebundenen, nicht nesselnden Quallen leben. Es war eine lustige Herausforderung, die Quallen ohne Taucherflossen, die wegen der Zerbrechlichkeit der Quallen verboten sind, lediglich mit Maske und Schnorchel ausgerüstet zu fotografieren.
Noch nie gesehen!
Und dann hatten wir noch eine unglaubliche Begegnung vor Sangalaki Island am Tauchplatz Manta Cleaning Station #2: laichende Tintenfische. Die versprochenen Mantas ließen sich zwar nicht blicken. Aber gegen Ende des Tauchgangs trafen wir auf vier Tintenfische, die sich gerade in der Brutphase befanden. Sie waren so sehr auf ihren Paarungsprozess konzentriert, bei dem ein Spermapaket vom Männchen auf das Weibchen übertragen wird, dass sie sich von uns überhaupt nicht beeindrucken ließen. Wir waren hier also gleichermaßen Fotografen, Meeresbiologen und Voyeure. Und wurden Zeugen eines der erstaunlichsten Fortpflanzungsvorgänge der Natur.
Am vorletzten Safari-Tag tauchten wir früh am Kanal von Maratua Island, dem seewärtigen Eingang zur Lagune der Insel, am Ende der einlaufenden Flut, als die Sicht optimal war. Da Pep starke Strömungen vorausgesagt hatte, tauchte ich erneut ohne Kamera.
Eine gute Entscheidung! Obwohl wir an der Mündung des Passes auf riesige Schwärme von Schnappern und Stachelmakrelen trafen, war es fein, das Spektakel einfach am Haken hängend zu beobachten, ohne sich Gedanken über Blenden, Verschlusszeiten und Schwebteilchen machen zu müssen. Nachdem ich nun zehn volle Tauchtage hinter mir hatte und schon völlig zufrieden mit der Bildausbeute war, verzichtete ich auf die beiden Tauchgänge am letzten Tag vor Derawan Island. Vielleicht war das ein Fehler. Denn diejenigen, die die Tauchgänge dort mitmachten, berichteten mir, dass das Riff das Sahnehäubchen der letzten vier Tage war. Ich möchte dem nicht widersprechen. Denn die Derawan-Inseln scheinen tatsächlich das »Raja Ampat des nördlichen Zentral-Indonesiens« zu sein.
Reiseinfos »Raja Ampat Aggressor«
Das Schiff: Die Raja Ampat Aggressor ist 30 Meter lang, neun Meter breit, hat acht Kabinen für 16 Gäste und 14 Crew-Mitglieder. Sie bietet Platz für bis zu 14 Taucher, also weniger als die meisten Tauchsafaris. Die neuen Zodiac-RIBs sind schnell und komfortabel. Das Tauchdeck verfügt über zwei große Doppelstock-Kameratische, und der Schiffssalon hat mehr Lademöglichkeiten als ein Tesla-Autohaus! Bei der guten Bordverpflegung, der professionellen Crew und den komfortablen Kabinen ist es kein Wunder, dass die Raja Ampat Aggressor eine der am besten bewerteten Aggressor-Yachten der Flotte ist. Die Reise zu den Derawan-Inseln mit ihr ist exklusiv. Es gibt derzeit (Stand Juli 2024) keine anderen Tauchsafarischiffe, die vor Ost-Borneo operieren. Raja Ampat ist seit 2015 ein Ziel der Aggressor-Flotte.
Die Route: Die Raja Ampat Aggressor fährt von Juli bis Anfang September zu den Derawan-Inseln. Taucher können die Übergangspassage von der Lembeh Strait nach Berau (Tanjung Batu) oder die Rückfahrt von Berau zur Lembeh Strait an beiden Enden der Saison buchen. Zwischen den Übergangsfahrten unternimmt die Raja Ampat Aggressor siebentägige Fahrten zu den Derawan-Inseln, von Berau nach Berau. Unabhängig von der Buchung gehören das Tauchen mit Walhaien vor den Bagans, der Besuch des Schildkröten-Schutzgebiets auf der Insel Sangalaki und das Schwimmen mit den nicht nesselnden Quallen im See auf der Insel Kakaban zu den besonderen Merkmalen dieser Safari.
Anreise: Die Anreise nach Indonesien ist ebenso ein Abenteuer wie die Safari selbst. Angesichts der vielen Flugverbindungen, des Risikos von Umsteigeverbindungen und des Gepäcktransfers wird empfohlen, ein paar Tage früher in Berau oder der Lembeh Strait anzukommen, um den Jetlag abzubauen und ein, zwei Tauchgänge von einem Resort aus wie zum Beispiel dem White Sands Beach Resort in Lembeh zu unternehmen.
Infos & Buchung: Die Tour wird von diversen Tauchreiseveranstaltern angeboten.
Direktbuchung: www.aggressor.com/destination/RajaAmpat/